EuropaReisetagebuch

Mit dem Interrailticket durch Europa

Stephi2 comments3576 views

Mit dem Interrailticket  und Kleinkind auf Europatour 2012

Das Arbeitsleben hatte mich wieder, 2 Jahre Elternzeit waren um und Jannik hatte die Eingewöhnung im Kindergarten wirklich bravourös gemeistert, schätze an dieser Stelle ist das Reisen ihm zum Vorteil geworden, denn vermeintlich fremde Menschen machen ihm keine Angst, sofern er von mir den ersten Schritt sieht. Ich persönlich tat mich ein wenig schwerer mit der Wiedereingewöhnung ins Arbeitsleben, aber nach ein paar Anlaufschwierigkeiten war auch dieser Schritt vollbracht. Der erste wieder verdiente Urlaub stand also vor der Tür und ich entschied mich für ein Interrailticket, welches für Leute über 25 leider nicht ganz so günstig ist.

Interrailen in Europa

Für eine Dauer von 3 Wochen, in denen ich insgesamt 10 Strecken fahren darf, kostet mich das Ticket 350 Euro, wozu aber noch die Sitzplatzreservierungen kommen, die in einigen Ländern wie zB. Frankreich erforderlich sind, zumal es grad Ferienzeit ist und jeder Schüler und Student interrailen ist. Da ich mich wie so oft recht spontan für dieses Ticket anstelle von Fliegen entschieden habe, waren auch schon viele Routen vollends ausgebucht, also musste ich umdisponieren. Eigentlich habe ich mit Amsterdam starten wollen, nix zu machen. Ich entscheide mich also für die erste Strecke nach Paris. Ich fahre via Mitfahrgelegenheit mit einer Gruppenkarte für 8 Euro nach Köln, um dort den Thalys nach Paris zu nehmen, allein diese Reservierung nach Paris kostet mich 26 Euro und bereits an dieser Stelle entscheide ich mich, nie wieder ein Interrailticket zu kaufen, denn für den Preis hätte ich ja fast die Strecke so gebucht bekommen. Wahrscheinlich lohnt sich so ein Ticket in Osteuropa, wo die Reservierungen lediglich kleinere Eurobeträge sind.

Mit dem Interrailticket und dem Thalys nach Paris

Die erste Strecke ist nach knappen 4 Stunden in einem blechernen Schnellzug geschafft und wir bahnen uns den Weg in einen Aussenbezirk namens Saint-Denis. Es handelt sich um einen nicht sonderlich attraktiven Stadtteil. Unser Gastgeber wohnt im 20. Stockwerk und nach unserer Ankunft in seinem Appartment und einem Rundgang durch seine Räume, kehre ich zu einem am offenen Fenster stehenden Jannik zurück. Das Herz rutscht mir in die Hose und ich überlege ihn schnell zu packen, aber die Gefahr, er erschreckt sich und verliert das Gleichgewicht, ist einfach zu groß, also versuche ich seine Aufmerksamkeit auf sein Buch zu lenken und biete ihm eine Geschichte an, der Plan geht auf und ich merke mir diese Erfahrung für jetzt und für immer und beschließe sie niemals wieder zu vergessen. Wir erleben zwei Tage Power Sightseeing durch eine gute Freundin unseres Gastgebers und ich gerate schnell unter Stress und merke zeitgleich wie schwer es fällt diese energiegeladene Französin zu bremsen, schätze das ist Teil der französischen Mentalität. Mit meinen extrem eingerosteten Schulfranzösisch erreiche hier leider gar nichts außer das Ordern eines Croissants und so bin ich meiner Fremdenführerin extrem dankbar für ihre Hilfe. Die meisten Franzosen sprechen kein Englisch, obgleich sie es könnten. Ich nehme zunächst an, es ist der reine Nationalstolz, im späteren Verlauf stelle ich jedoch fest, es geht vielmehr um Perfektionismus und die Angst vor Fehlern, die sie hemmt und deshalb versuchen es viele gar nicht erst.

Von Katastrophen und Verständigungsschwierigkeiten in Frankreich

Als ich im weiteren Reiseverlauf eine Sitzplatzreservierung nach Irun an die spanisch-französische Grenze mache, ändert sich mein Routenverlauf etwas ungewollt. Die ausschließlich französische Ansage, den Zug zu wechseln ignoriere ich aus Unwissenheit und lande mitten in der Nacht mit einem Kleinkind und den Tränen nahe im Nirgendwo der französischen Pyrenäen in einem Land, indem niemand mit mir Englisch sprechen mag. Als der Sicherheitsbeauftragte meine Sorgen wahrnimmt, nimmt er all seinen Mut zusammen und erklärt mir in gebrochenen Englisch, dass um 6 Uhr morgens der nächste Zug nach Irun geht und zwei Strassen weiter ein kleines Hotel sei, welches noch etwa 10 Minuten besetzt ist, bevor die Pforten geschlossen werden. Ich bedanke mich auf französisch, schnapp mir den Buggy mit Jannik drin und renne im Dunkeln die zwei Straßen runter, schlafe ein paar Stündchen in einem kleinen gruseligen Hotelzimmer für 50 Euro und nehme dann um 6 Uhr morgens den Zug nach Irun. Die Strecke ist lang und der Zug langsam. Wir machen es uns im Fahrradabteil bequem und ich versuche wie ein Vagabund auf dem Boden ein wenig Schlaf nachzuholen. In diese Gegend Frankreichs zieht es scheinbar wenig Touristen hin und wenn, dann wohl nicht in diesen Bummelzug morgens um 6 Uhr, so dass wir schnell von Bewunderern umzingelt sind, die zwischen Unverständnis, Mitleid und Begeisterung unserer Reiseidee lauschen, natürlich auf englisch und auch wenn ich glaube, dass sie nicht alles verstehen, scheint hier eine nonverbale Unterhaltung statt zu finden, die ich in dieser Form noch nicht erlebt habe und ich vergesse die bisher eher negativen Emotionen, die ich mit diesem Land verbinde.

Irun, eine Kleinstadt und das Drehkreuz nach Frankreich, Spanien und Portugal

Wir erreichen Irun gegen frühen Nachmittag bei strahlenden Sonnenschein. Da es hier keine aktive Couchsurferszene gibt, verbleiben wir eine Nacht in einer Pension und nehmen am nächsten Tag den Zug nach San Sebastian, wo wir zwei Tage bei einem eingewanderten Marokkaner unterkommen, der uns überschwenglich mit einem marokkansichen Buffet begrüßt und das erste Mal begleitet mich ein mulmiges Gefühl, da wir das gleiche Zimmer teilen über Nacht und ich mache kein Auge zu vor lauter Unwohlsein, um am nächsten Tag festzustellen, er ist total harmlos, lediglich diese leicht aufdringliche marokkanische Höflichkeit macht mir etwas zu schaffen. Wieder fällt es mir schwer das Tempo aus dem Sightseeingprogramm raus zu nehmen, aber er zeigt uns wirklich tolle Spots, kleine Gassen, tolle Klippen und riesige Spielplätze für Jannik. Hier lässt es sich leben.

Mit dem Nachtzug nach Lissabon

Dann geht es weiter mit dem Nachtzug, im Schlafsessel, nach Madrid, wo wir nur einen Tag verbringen, durch die Gegnd schlendern, spanische Luft einatmen, um dann am Abend wieder den Nachtzug, im Schlafsessel, nach Lissabon zu nehmen. Diese Übernachtfahrten im Schlafsessel mit Kind auf dem Schoß fordern mich auf eine Art und Weise, die ich zuvor noch nicht hatte, umgeben von jungen und wilden Menschen, die fernab von unserem Lifestyle sind. An der Grenze bin ich etwas über die Rauheit des Grenzpersonals erschrocken. Die armen schlafenden Menschen werden sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen, um ihre Ausweise zu prüfen. Einigen wird prompt der stützende Arm auf der Lehne weg gestoßen, wenn sie das Ansprechen zuvor nicht als Wecksignal wahr nahmen. Jannik verschläft das auf meinem Schoß. In Lissabon an der Orient Station bin ich überwältigt von dem architektonischen Meisterwerk eines lichtdurchflutenden Bahnhofs, alles scheint hier soviel heller zu sein. Wir werden von Paulo abgeholt, der in der Nähe vom Bahnhof arbeitet und uns erstmal zum Ausruhen zu sich nach Hause fährt. Es ist schrecklich heiß hier um die Mittagszeit und es scheint nicht eine Brise zu wehen. Am Abend kommen noch zwei weitere Couchsurfer aus Amerika mit vietnamesischen Wurzeln und zusammen mit Paulos Familie sind wir eine bunte lustige Truppe und ich fühl mich pudelwohl hier. Jannik wird von allen umworben und geliebt und blüht hier richtig auf. Paulo ist ein toller Gastgeber und fährt uns alle sogar zur Sintra, einem altertümlichen Ort mit tollen Palast, welcher zum Weltkulturerbe gehört. Wir besuchen tolle Klippen und abgelegene Strände entlang der Küste.

Mit dem Interrailticket durch Europa und zu meiner großen Liebe: Lissabon

Ich befinde mich hier seit langem wieder an einen Ort, der mich so resettet und mir soviel neue Energie gibt. Ich verliebe mich in Portugal, liebe Lissabon, liebe die Mentalität und möchte hier eigentlich nicht mehr weg. Obwohl wir noch weiter nach Barcelona und Marseille wollen, spüre ich sehr deutlich, dass ich noch hier bleiben möchte und als Paulo und seine Familie mir anbietet noch eine Woche zu bleiben, zögere ich keine Minute und sage zu. Ich organisier mir kurzerhand einen Rückflug für 180 Euro und cancel meine Zugreservierungen und genieße, es einfach nur hier zu sein. An einem Abend wollen Paulo und seine Frau uns ein Stück Portugal auf kullinarischer Ebene näher bringen und führen Jannik und mich zusammen mit den beiden amerikanischen Couchsurfern in ein kleines uriges Lokal, wo wir von verschiedenen Nationalgerichten kosten dürfen und es ist ein so toller und gemütlicher Abend. Dass die Portugiesen viel Fisch essen, liegt ohnehin auf der Hand. Ein Gang durch die Markthallen zeigt schnell, wie vielfältig das Angebot an Meeresgetier ist. Aber was dann hier noch auf dem Tisch landet, macht es für mich ein klein wenig zu einer Mutprobe und ich versuche es interessiert und unvoreingenommen wie Jannik zu sehen. Es gibt Schnecken, Hühnerfüße, Schweineknorpel und Hirn gebraten und in Brühe. Ich nehme mir vor, von jeder Schale zu kosten, ohne drüber nachzudenken, was drin ist und lediglich den Geschmack zu bewerten und am Ende machen doch tatsächlich die Schnecken das Rennen, sowohl bei mir als auch bei Jannik. Es ist ein toller Abend, der dann noch mit einem Musikzug auf der Straße gekrönt wird. Wir verbringen noch die nächsten Tage mit Straßenbahn fahren, vor allem die Linie 28 bedient fast alle Sehenswürdigkeiten, wir flanieren durch die bezaubernde Innenstadt, horchen den Straßenmusikern und hören dabei tolle Geschichten und genießen dieses absolut tolle und helle Licht, dass soviel Serotonin in mir ausschüttet, dass es für die nächsten Monate reicht. Wir besuchen das Ozenarium und fahren mit dem Cable Car über der Waterfront. Ich kann es nur schwer in Worte fassen, aber meine Begeisterung über das bloße Hiersein lässt mein Herz höher schlagen und auch das langsame Tempo mit Jannik hier die Stadt zu erkunden, machen mich so reich für diesen Moment und ich weiß, wir werden nicht das letzte Mal hier sein.

Ich bleibe noch in Lissabon

Einen so tollen Ort mit so tollen Menschen zu verlassen, fällt mir immer besonders schwer und so,  wie jedes Paradies seine Schattenseiten hat, gibt es die auch beim couchsurfen, nämlich dann, wenn man vielleicht für immer “Lebe wohl” sagen muß zu Menschen, die dir nicht nur Tür geöffnet haben, sondern auch ihr Herz und die mit einer Selbstverständlichkeit, dich in den Schoß der Familie aufnahmen und dir erlaubten ein Stück ihr Leben mitzuleben. Ich möchte an dieser Stelle einmal Paulo und Adleide ganz besonders danken, für soviel Nächstenliebe und Gastfreundschaft wie ich sie selten erlebt habe. Als das Flugzeug abhebt und in den Wolken verschwindet, überkommt mich wieder dieses drückende Gefühl und ich realisiere, dass mir jeder Abschied einer fremden Kultur so sehr zusetzt und ich spüre, dass es nicht das normale Gefühl eines endenden Urlaubs ist, sondern mehr, es geht nicht nur um Uralub, es geht um Leben und die Art und Weise wie wir das tun wollen.

Die Kosten für unser Interrailticket und die Tour durch Europa

Zu guter Letzt die Kosten für diesen zweinundhalbwöchigen Urlaub, die mit 900 Euro den Rahmen meiner sonst so sparsamen Kalkulationen sprengen, wobei hier vor allem die hohen Transportkosten mit insgesamt fast 700 Euro zu Buche schlagen. Und am Ende war sie jeden Cent wert, diese Reise durch fremde Kulturen.

Stephi
Alleinerziehend.Reisesüchtig.Freiheitsliebend.Alternativ.

2 Comments

  1. Pingback: Urlaub oder Reisen

Leave a Response